Die Sinnhaftigkeit der Fraktionsdisziplin

Ich halte es für demokratisch, wenn Fraktionen ein weitgehend einheitliches Abstimmverhalten an den Tag legen! Mit anderen Worten: Fraktionsdisziplin muss nichts Schlechtes sein. Die Sitte, dass Fraktionen in Parlamenten einheitlich abstimmen, ist seit dem Einzug der Piratenfraktion in das Abgeordnetenhaus Berlin neu in die Diskussion geraten. In den nächsten Absätzen liste ich einige Argumente pro Fraktionsdisziplin auf, was nicht heißt, dass es nicht auch berechtigte Contra-Positionen geben kann – die Meinungs- und Gewissensfreiheit der Abgeordneten natürlich an erster Stelle.

Bislang wurde die Fraktionsdisziplin weithin als gegeben hingenommen. Dass es sie gibt, wird der breiten Öffentlichkeit meist deutlich, wenn bei besonders wertbehafteten Abstimmungen im Bundestag die „Abstimmung frei gegeben“ wird1, oder wenn Abweichler auf einmal Probleme mit ihrer eigenen Fraktion bekommen2. Oder wenn die 15 Piraten in Berlin bei einer Abstimmung alle drei Möglichkeiten ausschöpfen. Manche stimmen „Ja“, andere „Nein“, wieder andere enthalten sich3.

Fraktionsdisziplin definieren Sebastian Galka und Eberhard Schuett-Wetschky folgendermaßen:

„Der Begriff der Fraktionsdisziplin bezeichnet den einfachen Sachverhalt, dass die Mitglieder insbesondere von Regierungsfraktionen im Bundestag in der Regel geschlossen (nach außen übereinstimmend) votieren. Genauer wäre nicht von Geschlossenheit, sondern von relativer Geschlossenheit zu sprechen.“ (Galka/Schuett-Wetschky 2007: 1096)

Fraktionsdisziplin und die Freiheit der Abgeordneten, das ist der klassische Konflikt zwischen Artikel 21 Grundgesetz in Verbindung mit Paragraph 1 des Parteiengesetzes und Artikel 38 Grundgesetz. Betont der erstgenannte Artikel die Rolle der Parteien bei der politischen Willensbildung, hebt der andere die Gewissensfreiheit der Abgeordneten hervor. Für Interessierte verweise ich hierbei auf die schon etwas ältere Dissertation von Karin Strauß (vgl. Strauß 1998: 69ff.). Der Tenor: Fraktionszwang ist verboten, Fraktionsdisziplin durchaus gestattet. Wichtig auch, dass Fraktionen eigenständige Körperschaften sind, die nicht deckungsgleich mit Parteien sind. Parteien wirken an der Willensbildung des Volkes mit, Fraktionen an der des Staates. Da Fraktionen für die Funktionalität des Staates wichtig sind, können sie deswegen teilweise von den Abgeordneten verlangen, ihre Gewissensfreiheit der Staatsfunktion unterzuordnen (vgl. im Besonderen hierzu Strauß 1998: 69/70).

Parteien sind die Akteure unseres parlamentarischen Systems

Wir wählen bei Wahlen in Deutschland Parteien und nicht Personen. Die Personen kommen mit wenigen Ausnahmen in Abängigkeit von Parteien oder Listenvereinigungen in die Parlamente. Selbst bei den Direktstimmen, den personalen Elementen unserer Wahlen, werden etwaige Verzerrungen der Parteistimmen-Verhältnisse durch die Erststimmen im Nachhinein ausgeglichen. In einer weithin akzeptierten Definition beschreibt Ulrich von Alemann Parteien folgendermaßen:

„Parteien sind auf Dauer angelegte, freiwillige Organisationen, die politische Partizipation für Wähler und Mitglieder anbieten, diese in politischen Einfluss transformieren, indem sie politisches Personal selektieren, was wiederum zur politischen Integration und zur Sozialisation beiträgt und zur Selbstregulation führen kann, um damit die gesamte Legitimation des politischen Systems zu befördern.“ (von Alemann 2001: 11; gleichlautend ebd.: 213)

Parteien integrieren also – wenn man die Grundgesetz-Ausführungen hinzunimmt – den politischen Willen der sich beteiligenden Bürgerinnen und Bürger in ihre Organisation und ihre Handlungen und streben danach, über das von ihnen ausgewählte politische Personal Einfluss auf das Handeln des politischen Systems zu gewinnen. Den Wählerinnen und Wählern haben sie vor der Wahl Angebote gemacht, die sie während der Legislaturperiode möglichst einlösen sollen. Ansonsten können die Wähler sie bei der nächsten Wahl dafür zur Rechenschaft ziehen.

Galka und Schuett-Wetschky blicken in diesem Sinne sehr funktionalistisch auf Parteien:

„Parteien sind im Kern nichts anderes als Aktionsgemeinschaften, die intern diskutieren und verhandeln, anschließend nach außen geschlossen agieren.“ (Galka/Schuett-Wetschky 2007: 112)

Dass die Parteien eine so prominente Rolle im bundesdeutschen politischen System spielen, liegt an der Entstehungsgeschichte des Grundgesetzes. Schon die Mitglieder des Parlamentarischen Rates waren von Parteien nach Proporz nominiert worden. Für sie stand es im wesentlichen außer Frage, dass sie eine Parteiendemokratie wollten, in der die Fraktionsdisziplin im Allgemeinen den Vorrang vor der Gewissensfreiheit der Abgeordneten erhalten würde, führen Sebastian Galka und Eberhard Schuett-Wetschky in ihrem zum Standardwerk taugenden Aufsatz zum Thema an (vgl. Galka/Schuett-Wetschky 2007: 112).

Alle Parlamentsgruppen integrieren ihre Mitglieder in eine Parteistruktur

Parteien sind die Institutionen, die für die politische Integration der Bürgerinnen und Bürger zuständig sind. In „alten Zeiten“ ging das so, dass vor allem Männer sich bei den Parteien anmeldeten und deren Sitzungen in irgendwelchen Dorfkneipen besuchten. Nach entsprechend langer Zugehörigkeit und intensivem Networking erhielten sie nach und nach Posten, wurden Delegierte oder von Delegierten in Parlamente entsandt.

Die politische Willensbildung erfolgt in der repräsentativen Demokratie also weit vor der parlamentarischen Diskussion und wird dann in einem mehrstufigen Prozess in die verschiedenen legislativen Ebenen übertragen. Für Responsivität sorgen Wahlen, regelmäßige Kontakte der Gewählten zu den Wählerinnen und Wählern, Bürgerbegehren, Demonstrationen, Medienberichterstattung und einiges mehr. Diesem inputorientierten, responsiven Demokratieideal folgen eigentlich alle relevanten demokratischen Parteien in der Bundesrepublik. Das unterscheidet unsere derzeitige politische Kultur von eher outputorientierten, elitistischen Postdemokratie-Vorstellungen (vgl. dazu auch Ritzi/Schaal 2010).

Auch die Piratenpartei als neueste Erscheinung am Parteienhimmel stellt dieses System nicht in Frage. Vielmehr schaffen die Piraten weitere Kanäle für Responsivität. Ihr Modell der Liquid Democracy will die repräsentative Demokratie nicht abschaffen. Vielmehr sollen Parteimitglieder – und unter bestimmten Umständen auch Bürgerinnen und Bürger – ihre Meinung direkter einbringen können. So wird derzeit noch auf Delegiertensysteme bei Parteitagen verzichtet. Das Abstimmverhalten der Mandatsträger soll durch die Mitglieder eindeutig nicht determiniert werden (vgl. dazu Bieber 2012: 32). Im Wahlkampf agiert die Netzpolitik-Partei sogar ausgesprochen traditionell mit intensivem Straßenwahlkampf, der Ausarbeitung von Wahlprogrammen, Plakatkampagnen und vielem mehr. Stammtische spielen in der normalen Parteitätigkeit bei den Piraten eine herausragende Rolle (vgl. Linden 2012).

Die Piraten – wie andere Parteien auch – kündigen ihren potentiellen Wählerinnen und Wählern also an, welche politischen Aktivitäten sie bei ausreichenden Mehrheitsverhältnissen nach der Wahl in Angriff nehmen wollen. Wieviele Versprechungen sie dabei machen, hängt von der Partei ab. Auf jeden Fall sind diese Inhalte – und die medial vermittelten Stimmungen – dann aber Entscheidungshilfen für die Wähler bei der Vergabe der Erst- und Zweitstimmen.

So betrachtet ist es nur fair, dass sich die Mitglieder einer gewählten Fraktion verpflichtet fühlen, innerhalb des durch Partei- und Wahlprogramme wie auch die allgemeine Parteitätigkeit gesetzten Rahmens zu agieren und abzustimmen. Denn dafür wurden sie gewählt. Mit dem Wahlakt haben die Wählerinnen und Wähler eine gewisse Erwartungshaltung an die Abgeordneten formuliert. Diese sollten sich daran in Maßen gebunden fühlen, finde ich.

Fazit: Klare Zuordnung für die Wähler, Berechenbarkeit des Staatshandelns

Bei Abstimmungen so abzustimmen, wie der jeweilige Abgeordnete es gerade richtig findet, macht es dem Wähler schwer. Er kann nicht mehr unterscheiden, welche Entscheidung nun in der Verantwortung der Partei gelegen hat und welche der Abgeordnete selbst zu verantworten hatte. Das führt in der Folge in das Dilemma, dass die Wähler die ihnen offen stehenden Sanktionsmöglichkeiten nicht mehr adäquat einsetzen können. Wäre es korrekt, eine Partei dafür abzustrafen, dass sich ein Abgeordneter die Freiheit genommen hat, die Parteilinie zu ignorieren?

Und andersrum betrachtet: Wieso sollte ich Piraten oder eine andere Partei, die die Freiheit der Abgeordneten besonders betont, wählen? Die Parteien können viel über ihre Absichten erzählen, wenn ein leidlich konsistentes Abstimmverhalten später nicht gesichert ist.

Bliebe noch die Stabilität des Regierungs- und damit des staatlichen Handelns. Wie oben geschildert, wirken Fraktionen an der Willensbildung des Staates mit. In parlamentarischen Systemen gibt es meist eine Verschränkung zwischen Mehrheitsfraktion(en) und Regierung. Über Fraktionsdisziplin wird deren Handeln aufeinander abgestimmt. Im Verhältniswahlrechtssystemen gibt es zudem nur selten harte Regierungsumschwünge, sondern meist eine gewisse Kontinuität, indem ein Koalitionspartner gegen einen anderen getauscht wird. Dies sorgt für eine gewisse Stabilität des Regierungshandelns und stabile Rollenzuweisungen für die Opposition (vgl. Strohmeier 2006: 414/415). Dadurch wird Politik also berechenbarer. Oder wie Strohmeier (1996:415) sagt: „Das ist gerecht und zugleich ungerecht.“ Denn wirkliche, möglicherweise gute Veränderungen werden auch unwahrscheinlicher.

Anmerkungen

1faz.net listet in einem Artikel zur ebenfalls freigegebenen Abstimmung über die Präimplantationsdiagnostik unter anderem Abstimmungen zur bundesdeutschen Hauptstadt, zum Holocaust-Mahnmal, zur Abtreibung oder zur Organspende auf.

2CDU-Bundestagsabgeordneter Wolfgang Bosbach wurde beispielsweise wüst von Fraktionskollegen beschimpft, weil er gegen den Euro-Rettungsschirm stimmen wollte.

3“’Andere Parteien müssen sich dran gewöhnen, dass wir von Fraktionsdisziplin nichts halten‘, so Martin Delius, ‚In Zukunft wird in diesem Haus wohl öfter genau ausgezählt werden müssen, da die Piraten weiter bei ihrer individuellen Abstimmungsweise bleiben werden'“, schrieben die Berliner Piraten selbstbewusst in ihrer Pressemitteilung zum Einzug ins Abgeordnetenhaus. So berichet die taz beispielsweise über die uneinheitlichen Abstimmergebnisse in der ersten Sitzung des Abgeordnetenhauses: http://www.taz.de/!80770/

Literatur

von Alemann, Ulrich (2001): Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. 2., durchgesehene Auflage, Opladen: Grundwissen Politik 26.

Bieber, Christoph (2012): Die Piratenpartei als neue Akteurin im Parteiensystem. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 7/2012, S. 27 – 32. Online im Internet: http://www.bpb.de/files/G89LL0.pdf [Stand: 19.3.2012].

Galka, Sebastian u. Eberhard Schuett-Wetschky (2007):Parlamentarismuskritik und Grundgesetz: Hat der Parlamentarische Rat Fraktionsdisziplin abgelehnt? In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Jg. 17/Nr. 4, S. 1095 – 1117. Online im Internet: http://www.politik.uni-kiel.de/Professuren/dokumente/schuett/dokumente/SW_Galka407.pdf [Stand: 10.4.2012].

Linden, Markus (2012): Die Onlinedemokratie – Falsche Versprechen und reale Chancen digitaler Beteiligungsformate. Online im Internet: http://diskurs.dradio.de/2012/02/15/die-digitale-demokratie-falsche-versprechen-und-reale-chancen-digitaler-beteiligungsformate/ [Stand: 19.3.2012].

Ritzi, Claudia u. Gary S. Schaal (2010): Politische Führung in der „Postdemokratie“. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 2-3/2010. Online im Internet: http://www.das-parlament.de/2010/02-03/Beilage/002.html [Stand: 10.4.2012].

Strauß, Karin (1998): Leibholz kommunal: zur Übertragbarkeit der Parteienstaatstheorie des Staatsrechtlers Leibholz auf die Kommunalpolitik. Münster u.a.: Internationale Hochschulschriften 277. Zugleich Dissertation an der Universtität Münster, 1997. Online im Internet bei Google Books.  [Stand: 22.3.2012].

Strohmeier, Gerd (2006): Wahlsysteme erneut betrachtet: Warum die Mehrheitswahl gerechter ist als die Verhältniswahl. In: Zeitschrift für Politikwissenschaft, Jg. 16./Nr. 2, S. 405 – 420. Online im Internet: http://www.zpol.nomos.de/fileadmin/zpol/doc/Aufsatz_ZPol_06_02.pdf [Stand: 10.4.2012].

Die Sinnhaftigkeit der Fraktionsdisziplin

Ein Gedanke zu „Die Sinnhaftigkeit der Fraktionsdisziplin

  1. SG schreibt:

    Vielen Dank für die Blumen. „Standardwerk“ klingt gut, das werde ich mir merken 😉

    Ich stimme Ihnen fast vollständig zu. Ich denke aber, dass die seit Jahrzehnten verbreitete Redeweise von einem Spannungsverhältnis zwischen Art. 21 und Art. 38 GG hinterfragt werden sollte.

    Die politische Tätigkeit der heutigen Abgeordneten ist doch gar nicht denkbar ohne Zugehörigkeit zu einer Partei, und das gilt für die Piraten genauso wie für die anderen „etablierten“ Parteien. Den Wähler interessiert nicht die „persönliche“ Auffassung eines Abgeordneten zu einer Sachfrage, sondern die Auffassung der Partei (oder des Parteiflügels). Und so gut wie alle Abgeordnete arbeiten daher auch freiwillig im Rahmen der Fraktionsdisziplin mit, ohne deswegen mit ihrem Gewissen in Konflikt zu geraten.

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