„Digitale Demokratie“ ist der Trend in der aktuellen politischen Diskussion und war deshalb Grund genug für die Studenteninitiative „Weitblick“ in Münster, dazu eine Podiumsdiskussion an der örtlichen Universität auszurichten. Ein spannendes Thema, wüssten wir doch alle gern, was es mit dem hippen Terminus so auf sich hat. Auffällig ist beispielsweise, dass es keinen Wikipedia-Eintrag dazu gibt. Bei aller Vorsicht mit dem „Online-Lexikon“: Dies spricht für eine gewisse Unschärfe des Begriffs. Leider schafften es auch die Diskutierenden und die Moderatoren nicht, für mehr Klarheit zu sorgen.
Auf dem Podium saßen vor etwa 50 Zuhörerinnen und Zuhörern im fortgeschrittenenen Studierendenalter: die unvermeidliche Marina Weisband von den Piraten, PR-Berater Till Achinger, CDU-Ex-Landtagsmitglied Josef Rickfelder, Prof. Dr. Norbert Kersting vom Institut für Politikwissenschaft der Universität Münster und Dr. Pascal Schumacher vom Institut für Informations-, Telekommunikations- und Medienrecht der Universität Münster. Bis auf den konservativen Politiker waren sich die restlichen Diskussionsteilnehmer einig, dass mit Hilfe des Internets politische Diskussionen ermöglicht werden, demokratische Entscheidungen damit aber nicht legitim getroffen werden können und Sorge getroffen werden muss, dass immer mehr Menschen das Know-how bekommen, sich über das digitale Kommunikationsmedium in politische Diskussionen einzubringen. Josef Rickfelder sprach sich zwar auch für eine beteiligungsoffenere politische Kultur aus, zeigte sich aber bezogen auf die Nutzung von Computer- und Telekommunikationstechnik zu diesem Zweck deutlich skeptischer. Besonders die Anonymität im Netz beeinträchtige die demokratische Qualität, kritisierte er. Werte wie Vertrauen seien in persönlichen Begegnungen am besten zu schaffen, politische Vergandlungen im direkten persönlichen, nicht live „gestreamten“ Gespräch am besten zum Erfolg zu führen.
Steigender Trend zur hybriden Demokratie
Der Politikwissenschaftler Prof. Dr. Norbert Kersting unternahm einleitend den Versuch, das Themen aufzuhellen und einzugrenzen. Er konstatierte einen Trend zur „hybriden“ Demokratie. Entlang der idealtypischen Ausprägungen direkte, repräsentative, deliberative und symbolische Demokratie bildeteten sich immer mehr Mischformen aus. Die neuen Medien böten je unterschiedliche Entwicklungspotenziale für die Dimensionen Mobilisierung, Information, Kommunikation und Engagement. Innerhalb der herkömmlichen politischen Institutionen – er nannte dies den „invited space“ – gebe es einen konstanten Rückgang der Mitwirkung. Am offensichtlichsten ist dies bei der Entwicklung der Mitgliederzahlen der „etablierten“ Parteien und bei der sinkenden Wahlbeteiligung. Demgegenüber stehe aber der sich ausbreitende „Invented Space“. Immer mehr Menschen suchten sich ihre Beteiligungsfelder und -formen selbst.
Weitgehende Einigkeit erzielten die Gesprächsteilnehmer darin, dass die Möglichkeiten der Internet-Kommunikation die Chance auf transparentere politische Prozesse böten. Transparenz, laut Prof. Kersting ein „zentrales Ziel von Demokratie“, sei sehr wichtig. Gleichwohl gebe es Momente in der demokratischen Entscheidungsfindung, bei denen Vertraulichkeit wichtig sei, etwa wenn es darum gehe, divergierende Partei-Positionen einem Kompromiss zuzuführen. Marina Weisband sprach sich dafür aus, dass Parteivertreter künftig mehr Mut zeigen sollten, auch die „Preisgabe“ von Positionen im Sinne der Sache öffentlich zu machen. Josef Rickfelder wie auch Norbert Kersting wiesen indes darauf hin, dass bei vollständig transparenten und öffentlichen Diskussionsprozessen – etwa in grundsätzlich öffentlichen Parlamentsausschüssen – die Gefahr bestünde, dass die eigentliche Entscheidungsfindung in Hinterzimmer abwandere.
Am Beispiel des „E-Voting“, also der computergestützten Wahlentscheidung, wurde klar, dass niemand der Anwesenden darin die Chancen elektronisch unterstützter Demokratie sieht. Marina Weisband: „E-Voting ist überhaupt nicht die Lösung.“ Die ungelöste Sicherheitsproblematik, Datenschutzaspekte, Fragen von Anonymität und Pseudonymität stünden dem entgegen. Prof. Kersting befürchtete zudem, dass die Abwanderung von Abstimmungsprozessen in das Internet das Vertrauen der Öffentlichkeit in die Demokratie beeinträchtige. Vertrauen in den ordnungsgemäßen Ablauf von Wahlen sei wesentlich für eine gut funktionierende Demokratie. Und das Internet? Dr. Schumacher brachte es auf den Punkt: „Das Internet erleichtert Partizipation. Es befördert sie aber nicht.“
Liquid Democracy als Lösung für mehr Beteiligung?
Liquid Feedback als technischer Ausdruck des Liquid-Democracy-Konzeptes wurde von Marina Weisband vorgestellt. Anstatt nur alle vier Jahre über Wahlen Einfluss aufs politische Geschehen zu nehmen, ermögliche die Software eine kontinuierliche Beteiligung an der politischen Willensbildung – entweder persönlich oder über Stimmen-Delegationen. Das Delegationsprinzip kritisierte CDU-Politiker Rickfelder. Auch Pascal Schumacher warf warnend ein: „Die bloße Möglichkeit, über alles abzustimmen, ist kein Wert an sich.“
Wesentliche Fragen zur Liquid Democracy stelle Weisband leider nicht. Wie unter anderem in diesem Blog bereits in den Berichten Liquid Democracy überwindet drei Grenzen – und schafft neue und Liquid Feedback und die Probleme damit in a nutshell dargestellt, erschließt sich zunächst nicht, worin die wirklich neue Qualität von Beteiligungsprozessen in Liquid Feedback liegt. Weder das von der Piratenpartei genutzte Software-Projekt Liquid Feedback, noch das „Konkurrenz“-Projekt Adhocracy haben es bislang geschafft, bezogen auf ihre Nutzung aus einer Eliten-Nische herauszukommen. Was hingegen umgehend zu guten Ergebnissen – auch Wahlergebnissen für die Piraten – geführt hat, sind klassische Beteiligungsangebote. Die Piratenpartei ist eine geradezu exzessive Stammtisch-Veranstalterin, sie betreibt viele, viele Infostände und stampft in kurzer Zeit gänzlich analoge Plakat-Kampagnen aus dem Boden.
Vor diesem Hintergrund erschließt sich nur schwer, wieso darüber hinaus noch eine komplizierte Software nötig sein soll. Beteiligung ist bereits jetzt möglich. Die Öffnung aller Parteien und Institutionen für derartige Beteiligung über die bereits jetzt besuchbaren Ortsvereinssitzungen hinaus scheint vielen sinnvoller. Entsprechend äußerte sich Josef Rickfelder. Auch in der anschließenden, kurzen Diskussion gab es Einwände in diese Richtung. Besonders wurde auf die Rolle des Vertrauens verwiesen, das im Internet nur schwer herstellbar sei. Marina Weisband wie auch Till Achinger vertraten hierzu die steile These, dass über internetgestützte Deliberationen Diskussionen versachlichten und Ergebnisse verbessert würden. Dies sei einem amorphen Wert wie „Sympathie“ vorzuziehen.
Mehr Schnittstellen als Ausgleich für digtale Spaltung?
Wenig Erhellendes – außer einem vagen Hinweis darauf, dass das Problem in zwei bis drei Generationen von allein verschwinde – bot Weisband bei ihrem Liquid-Democracy-Werbung auch für das Phänomen der digitalen Spaltung an. Derzeit werden die Internet-Beteiligungen nur von einer sehr speziellen Gruppe genutzt. Soziodemographisch ist Internet-Beteiligung eindeutig ein männliches Mittelschichts-Phänomen. Im Fortschreiten des Elektronisierungsprozesses von Beteiligung verschafft sich diese Schicht Vorteile, die später nur schwer wieder auszugleichen sind. Weisband verwies dann auch darauf, dass es noch mehr Schnittstellen zu herkömmlichen Deliberationen geben müsse.
Nahezu unlösbar erscheint zudem der Widerspruch zwischen dem Liquid-Democracy-Anspruch, mehr Bürgerinnen und Bürger je nach ihren individuellen Vorlieben in die Politik einzubinden, mit dem Fehlen elektronischer Abstimmungsmöglichkeiten und der Freiheit von demokratisch gewählten Abgeordneten. Dies wurde in der Diskussion nur kurz angerissen. Selbst wenn eine breitere Beteiligung über Liquid Feedback erreicht würde, was hülfe sie, wenn Abgeordnete weiterhin nach Gusto abstimmten? In der Piratenpartei ist dies gang und gäbe und wird auch offensiv proklamiert. Imperative Mandate sind in Deutschland zudem qua Verfassung ausgeschlossen. Zu dieser Lücke in der Entscheidungskette bot bei der Diskussion niemand eine Lösung an.
Das Problem verschärft sich noch dadurch, dass – wie gesagt wurde – es bei der Nutzung von Software wie Liquid Feedback die 90:9:1-Regel gebe. 90 Prozent nutzten sie gar nicht, 9 Prozent mittelstark und 1 Prozent sehr stark. Die Folge: Eine kleine Clique bestimmt den Beteiligungsprozess und eine noch kleinere Gruppe von Abgeordneten macht dann wieder etwas anderes. Das klingt eigentlich nicht neu, sondern nach einer Zustandsbeschreibung der heutigen repräsentativen Demokratie.
Fragen zu Effizienz- und Kompetenz-Problemen
Nur schwer nachvollziehbar waren Tendenzen in Teilen des Publikums, Bürgerinnen und Bürgern grundsätzlich erst einmal zu misstrauen. Der Effizienzgedanke wie auch Fragen der Kompetenz spielten in einigen Fragen aus der Zuhörerschaft eine Rolle. Bürgerbeteiligung kostet Zeit, zumal wenn sich möglichst jeder Interessierte einbringen können soll. Hingewiesen wurde auch darauf, dass bloßes Interesse nicht ausreichend sei, um gute Sachentscheidungen zu treffen. Hier müsse Expertinnen und Experten der Vorrang gegeben werden. Deshalb seien Einschränkungen von Bürgerbeteiligung nötig und legtim. Till Achinger wies richtigerweise darauf hin, dass eine solche Sichtweise verfassungsrechtlich arg bedenklich sei.
Nur zur Klarstellung sei hier noch einmal daruf verwiesen, worum es in einer Demokratie – der Herrschaft des Volkes – geht: dass die, die es betrifft, auch die sind, die es entscheiden. Das hat Abraham Lincoln bereits 1863 in seiner Gettysburg-Adress so schön formuliert, wie es schöner nicht geht: „Government of the people, by the people, for the people“. Deshalb ist alles gut, was dieses Ziel verwirklichen hilft.