Konsens ist urdemokratisch

Selten kommt es vor, dass eine klare Äußerung wie „Die haben es begriffen“ mit einem klaren: „Nein, nicht wirklich“ gekontert werden kann. Mit der zitierten klaren Zustimmung adelt der von mir sehr geschätzte Journalist  Burkhard Schröder einen Absatz des Beitrages Joachim Gauck: the making of a technocrat seines Berufskollegen Matthias Heitmann auf Spiked online.

Der Beitrag befasst sich eigentlich mit dem Aufbau von Joachim Gauck als idealem Konsens-Kandidaten für eine zutiefst vom Parteienwettbewerb verunsicherte politische Öffentlichkeit. Die These des von Schröder zitierten Absatzes in short ist: Demokratie lebt vom Wettbewerb widerstreitender Meinungen, Argumente und Positionen. Eine der Positionen setze sich dann so lang durch, bis sie durch eine andere korrigiert werde. Die deutsche politische Kultur strebe hingegen nach Ausgleich widerstreitender Positionen. Das verhindere klare Positionierungen.

Die Analyse ist richtig, die Schlussfolgerung aber falsch. Erkennbar orientiert sich der Autor in seiner Argumentation am britischen Publikum. Dabei verkennt er die markanten Unterschiede zwischen den politischen Kulturen angloamerikanischer und mitteleuropäischer Prägung.

Juristen würden von herrschender Meinung sprechen. Diese ordnet die britische Demokratie eher dem Typus einer Konkurrenzdemokratie zu. Das deutsche politische System ist hingegen eher in Richtung einer Verhandlungs- und Konkordanzdemokratie ausgeprägt. Was dies alles im Einzelnen bedeutet, fassen die Informationen zur politischen Bildung der Bundeszentrale für politische Bildung sehr schön zusammen.

Deutlich werden die Unterschiede beider Systeme an den Wahlergebnissen auf nationaler Ebene. In Großbritannien gab es bis zur vorigen Wahl zwei große, konkurrierende Parteien, die sich in der Regierungsverantwortung ablösten. Mittlerweile ist eine dritte Partei hinzugestoßen, und auch auf der britischen Insel regiert eine Koalition.

In der Bundesrepublik gab es nur ein Mal in der Geschichte, bei der zweiten Kanzlerschaft Adenauers, eine absolute Mehrheit. Und selbst damals nahm er andere Parteien mit in die Bundesregierung auf. Hierzulande regieren wie selbstverständlich verschiedene Koalitionen.

Die politischen Koalitionen tragen in der Bundesrepublik nicht die alleinige Verantwortung. Eingebettet sind sie in ein breites Netz von korporatistischen Akteuren. Von den öffentlich-rechtlich organisierten TV-Sendern, Krankenkassen oder Kammern über Gewerkschaften und Unternehmerverbände, bis hin zu Kirchen und vielen weiteren mehr gibt es zahlreiche Akteure, mit denen politische Regierungen vor den eigentlichen Abstimmungen Positionen klären, diskutieren und – ja, auch – nivellieren.

Großbritannien kennt diese konsensuale Organisationsform des politischen Systems so nicht. Seit verläuft Politik dort eher konfrontativ – worauf ja bereits die Sitzordnung im House of Commons hindeutet. Wesentliche Verhandlungspartner des Staates – nämlich die Gewerkschaften – hat Margret Thatcher einst entmachtet.

Warum diese langen Ausführungen? Nach meiner Ansicht ist die Kritik: In Deutschland werden politische Entscheidungen nicht aus dem Konflikt, sondern aus der klärenden Diskussion heraus getroffen, verkürzt. Ich mag nicht konstatieren, dass dieses Land undemokratisch sei. Vielmehr ist es ein Zeichen einer entwickelten Demokratie, wenn pluralistische Akteure bereits vor den Entscheidungen eingebunden und auch gehört werden. Allenfalls hätte die von Schröder zitierte Kritik aus der Sicht eines Briten für die britische Insel Gültigkeit.

Für das europäische Festland sind andere Maßstäbe anzusetzen. Niemand würde der Schweiz, die eine weitgehende Reinform einer Konkordanzdemokratie betreibt – man schaue nur auf die dortigen Allparteien- und Proporzregierungen -, eine nicht-demokratische Verfasstheit unterstellen.

Mit nur wenig Aufwand kann eine Verhandlungsdemokratie wie in Deutschland auch in die Demokratievorstellung der derzeit trendigen Piratenpartei eingegliedert werden. Denn deren Konzept einer „Liquid Democracy“ ist auch nichts wesentlich anderes als eine repräsentative Demokratie, die an vielen Stellen offen ist für die Einwirkung der Bürgerinnen und Bürger.

Das Schlagwort „undemokratisch“ lässt sich – bezogen auf obiges Zitat – dann auch schnell mit einem weiteren Schlagwort beiseitewischen: „Transparenz“. Undemokratisch wird „Verhandlungsgeklüngel“ dann, wenn die Gespräche im Verborgenen stattfinden und die Entscheidungsgrundlagen nicht offengelegt werden. ACTA ist dafür ein wunderbares Beispiel. Fazit: Nicht Verhandlungen oder Konsenssuche sind undemokratisch, sondern das Verbergen solcher Aktivitäten.

Konsens ist urdemokratisch