Leihstimmen-Doping oder normale Parteifunktion?

Den Medienbeobachtern standen geradezu die Münder offen: Mit 9,9 Prozent ging die niedersächsische FDP als großer Gewinner aus der niedersächsischen Landtagswahl hervor. Zwar haben die Grünen noch stärker zugelegt und ebenfalls ihr bislang bestes Ergebnis in Niedersachsen eingefahren, aber deren Erfolg war nicht ansatzweise so unerwartet.

Denn wenn stimmt, was die veröffentlichte Meinung und Parteivertreter jeder Couleur immer behaupten, dann verstieß die FDP gegen alle Grundsätze für erfolgreiches Wahlkämpfen (vgl. dazu auch AFP 2013): Sie war zerstritten, ihre Inhalte diffus, besondere Erfolge hatte sie nicht vorzuweisen, das Personal war wenig profiliert.

Eine weitere Partei, die sich an der Wahl beteiligte, hatte sehr ähnliche Voraussetzungen, fuhr aber ein ganz anderes Ergebnis ein: die Piratenpartei. Auch dort herrschte Chaos, Gezank unter Führungskräften, inhaltliche Desorientierung.

Was ist der Grund für den so unterschiedlichen Ausgang der Wahl für die einen und die anderen? Es kann nicht nur das „FDP-Doping“ mit „Leihstimmen“ (so Krauel 2013) sein, das den Liberalen medial um die Ohren gehauen wird. Die Vermutung drängt sich auf, dass es auch an einer bestimmten Parteifunktion liegt, die die FDP erfüllt, die Piraten hingegen nicht.

Normal: Parteien streben nach Macht und Herrschaft

Denn Parteien üben vielfältige Funktionen fürs politische Gemeinwesen aus: Sie sind für die politische Willensbildung und die Formulierung politischer Ziele über die Aggregation politischer Meinungen, die Integration der Bürgerinnen und Bürger ins politische System, die Bereitstellung politischen Personals und somit auch für die Besetzung politischer Herrschaftsposten zuständig. Sie motivieren die Bürgerschaft zur politischen Partizipation und zur Wahlteilnahme und legitimieren so politische Herrschaft (vgl. dazu etwa Blank/Tzschätzsch 2009Schmid 1995: 433; ganz ähnlich Lösche 2006).

Die mediale Berichterstattung ordnet das FDP-Ergebnis nun als außergewöhnlich ein. Indiz dafür: Wesentlich mehr FDP-Wählerinnen und -Wähler als üblich hätten mit der Zweitstimme die kleine Partei FDP und mit der Erststimme die große CDU gewählt (vgl. AFP 2013 u. Wahlarchiv Tagesschau 2013). Dies wird dann gern als „Doping“ stigmatisiert, wie bereits geschrieben. Anderswo lesen politisch Interessierte vom „Lagerwahlkampf“ (so etwa Tjong 2013: 2) – ein Wort, das negativ verstanden werden soll.

Tatsächlich ist aber wohl nur Folgendes passiert: Die Wählerinnen und Wähler haben sich zutiefst rational verhalten. Im Wahlkampf gab es nur vier Parteien, die überhaupt Chancen hatten, vom zu verteilenden Regierungskuchen etwas abzubekommen: CDU, SPD, FDP und Grüne. Von Seiten der jeweils größeren Partei waren Grüne bzw. FDP als Koalitionspartner benannt worden. Inhalte spielten kaum eine Rolle, das Personal war blass oder demontierte sich fröhlich gegenseitig, ein drängendes landespolitisches „Glaubens“-Thema bestimmte den Wahlkampf auch nicht.

Somit kristallisierte sich die Wahlentscheidung fast ausschließlich an der oben benannten Herrschaftsfunktion heraus. Die Wählerinnen und Wähler bekundeten ihr Interesse, eine bestimmte Parteienkonstellation in Regierungsverantwortung zu wählen. Für die Anhänger einer CDU-geführten Regierung war die Zweitstimme für die FDP das Vernünftigste, was sie wählen konnten. Denn allein hätte die CDU keine Chance auf den Ministerpräsidentenposten gehabt. Darüber wurde sogar eine gewisse Mobilisierung erreicht. Die Wahlbeteiligung war besser als bei der Wahl zuvor.

Auch normal: Lagerdenken bei Parteien und Wählern

Es gibt keinen Grund, dieses Wählerverhalten zu brandmarken. Es ist bundesdeutsche Normalität. Frank Decker rechnet für den Stand des Jahres 2007 beeindruckend vor, dass fast zwei Drittel aller Regierungen in den Bundesländern seit 1990 aus Koalitionen bestanden. Hier wird es also ständig zu Zweitstimmen-Gaben gekommen sein. Und von 283 Gesamt-Regierungsjahren in den Ländern, die Decker ermittelt hat, wurden nur 87 durch Konstellationen abgeleistet, die der gerade herrschenden Bundesmehrheit widersprachen (vgl. Decker 2007: 30). „Lagerdenken“ ist also völlig normal, in den Jahren vor 1990 und vor allem in den 1970er Jahren umso mehr, da damals überhaupt nur drei verschiedene Regierungsvarianten denkbar waren (vgl. ebd.).

Aus diesen und weiteren Gründen ordnet Decker die Bundesrepublik auch einem mehrheitsdemokratischen oder wettbewerbsdemokratischen Modell zu, das durch konsensuale Elemente wie etwa die föderalistischen und korporatistischen Verflechtungen ergänzt wird. Demnach stehen sich über das gesamte politische System hinweg im Wesentlichen zwei große Parteienblöcke gegenüber, die sich mehr oder weniger regelmäßig an der Macht ablösen (vgl. Decker 2007: 27 – 29).

Diesmal hat also das rot-grüne Lager gewonnen. Da es nicht die Mehrheitskonstellation im Bund ist, kann dies auf einen bevorstehenden Bundesregierungswechsel hindeuten. Andererseits wollen viele Wählerinnen und Wähler offenbar die konservativ-liberale Regierung behalten, worauf hindeutet, dass die FDP nach einem Tief in den Jahren 2011 und der ersten Jahreshälfte 2012 in Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen wieder mit guten Ergebnissen in die Landtage einzog – jeweils bei beabsichtigter und dann wegen rot-grüner Siege nicht zustande gekommener Unterstützung der CDU (vgl Wikipedia 2013).

Eine klare Funktion kommunizieren

Die Funktion als Herrschaftssicherungspartei scheint bei der FDP also Personalquerelen und inhaltliche Dürftigkeit zu überstrahlen. Auch die Grünen werden sicher zum Teil deshalb gewählt, weil sie im Verbund mit der SPD Regierungschancen haben. Sie haben zudem noch den Vorteil, dass sie ein eigenes Milieu mit besonderen Interessen ansprechen. Der FDP wiederum schrumpft dieses Milieu scheinbar weg.

Und was heißt das für die Piraten? In dieser scheinbar eher fest gefügten Macht-/Mehrheitskonstellation könnten sie nur eine Rolle spielen, wenn sie zur Mehrheitsbeschaffung für ein Lager nötig wären. Das ist aber nicht in Sicht. Personelle Angebote haben sie nicht. Niemand vom aktiven Personal könnte nennenswerte Zahlen von Wählerinnen und Wähler mobilisieren. Inhaltlich sind sie schwer greifbar. Sie haben zwar mittlerweile viele Positionen im Programm, nur dringen sie damit nicht in den öffentlichen Diskurs durch.

Die einzige Chance scheint dennoch in den Inhalten – und dort in wenigen Kernthemen – zu liegen. Beispielsweise galten die Grünen bei der vorigen Landtagswahl in Baden-Württemberg bei blassem Personal als die Anti-Stuttgart-21-Partei und errangen damit eine Mehrheit. Die Grünen haben das Image als Energiewende-Partei und ziehen damit Stimmen auf sich, während die Wählerinnen und Wähler der aktuell real existierenden Energiewende-Partei CDU eben dieser dieses Image nicht abnehmen. Sie wählen eher die Person Merkel. Ob sie die Frage beantworten könnten, wofür Merkel steht, ist fraglich.

Gelänge es den Piraten, sich inhaltlich glaubwürdig zu relevanten Themen des politischen Diskurses in ihrem Kern-Milieu zu positionieren (soziale Ungleichheit, Datenschutz, Verbraucherschutz o.ä.), hätten sie möglicherweise die Chance, diese im Wahlvolk kursierenden Meinungen auf sich zu ziehen und sie in den Wähler-Wunsch umzuwandeln, die Partei mit politischer Macht auszustatten. Dann wäre es vielleicht sogar egal, dass die Handelnden der Partei im Wesentlichen durch Uneinigkeit auffallen.

Literatur

AFP (2013): Analyse: Niedersachsen gibt Rösler neue Kraft. Online am 23.1.2012: http://www.stern.de/news2/aktuell/niedersachsen-gibt-roesler-neue-kraft-1957872.html.

Blank, Florian u. Julia Tzschätzsch (2009): Was sind Parteien? – Bedeutung und Funktionen. In: Bundeszentrale für politische Bildung: Dossier: Parteien in Deutschland. Online am 22.1.2013, http://www.bpb.de/politik/grundfragen/parteien-in-deutschland/42035/was-sind-parteien.

Decker, Frank (2007): Die Bundesrepublik auf der Suche nach neuen Koalitionen. In: Aus Politik und Zeitgeschichte, Nr. 35-36/2007, S. 26 – 32. Online am 22.1.2012, http://www.bpb.de/system/files/pdf/13NBQY.pdf.

Krauel, Torsten (2013): FDP-Doping kannibalisiert schwarz-gelbes Bündnis. In: welt.de, 21.1.2013. Online am 23.1.2013, http://www.welt.de/politik/wahl/niedersachsen-wahl/article112933808/FDP-Doping-kannibalisiert-schwarz-gelbes-Buendnis.html.

Lösche, Peter (2006): Aufgaben und Funktionen. In: Informationen zur politischen Bildung Nr 292, Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland. Online am 22.1.2013, http://www.bpb.de/izpb/8613/aufgaben-und-funktionen.

Schmid, Josef (1995): Parteien. In: Andersen, Uwe u. Wichard Woyke (Hrsg.): Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland. Bonn: Bundeszentrale für politische Bildung.

Tjong, Sandra (2013): Fünf Lehren aus der Landtagswahl in Niedersachsen. In: focus.de, 21.2.2013. Online am 23.1.2013, http://www.focus.de/politik/deutschland/niedersachsen-wahl-2013/tid-29128/dramatischer-zittersieg-fuer-rot-gruen-fuenf-lehren-aus-der-landtagswahl-in-niedersachsen_aid_902525.html.

Wahlarchiv Tagesschau (2013): Landtagswahl Niedersachsen 2013. Online am 22.1.2013, http://wahlarchiv.tagesschau.de/flash/index.shtml?lra=ndr.

Wikipedia (2013): Ergebnisse der Landtagswahlen in der Bundesrepublik Deutschland. Online am 23.1.2013, http://de.wikipedia.org/wiki/Ergebnisse_der_Landtagswahlen_in_der_Bundesrepublik_Deutschland.

Leihstimmen-Doping oder normale Parteifunktion?