Nur wenige Staaten nutzen das Potenzial der direkten Demokratie aus

Die Coronavirus-Krise hat vielen Veranstaltungen den Garaus gemacht. Zahlreiche Organisationen machten aus der Not eine Tugend und boten geplante Vortragsveranstaltungen als Online-Konferenz an. So tat es auch Mehr Demokratie. Auf diesem lange still liegenden Blog hat der Virus dazu geführt, dass es ein Lebenszeichen gibt.

Aber zur Buchvorstellung: Frank Rehmet, wissenschaftlicher Referent der NGO, die sich für eine partizipativere und deliberativere Ausgestaltung der Demokratie engagiert, präsentierte Ende März im Rahmen einer Videokonferenz den Überblicksband „Volksabstimmungen in Europa. Regelungen und Praxis im internationalen Vergleich“, den er gemeinsam mit Tim Weber und Neelke Wagner im Budrich-Verlag herausgegeben hat.

Der 26 Euro teure Band bietet interessierten Lesenden einen mehr oder weniger kompakten Überblick über den Stand direktdemokratischer Verfahren in 43 europäischen Ländern. 126 der insgesamt 202 Seiten würden durch Länderberichte belegt, berichtete Rehmet. Der Länderteil erweitert und vervollständigt die knappen Länderübersichten, die Mehr Demokratie bereits auf seiner Internetseite auflistet.

Drei Unterscheidungsmerkmale direktdemokratischer Verfahren

Vorgeschaltet ist ein theoretischer, systematisierender Teil. Darin führt der Autor aus, was er unter direktdemokratischen Verfahren versteht. Dies hält er für notwendig hält, da in der Fachliteratur keine eindeutige Definition zu finden sei. Für Rehmet zeichnen sich solche Verfahren dadurch aus, dass sie sich anhand von drei Merkmalen unterscheiden lassen:

  • Geht es um Sachfragen oder um allgemeinere Themen?
  • Sind die Abstimmungsergebnisse verbindlich oder nicht?
  • Wer löst die Abstimmungen aus? Sind es die Staatsorgane direkt, die Bürgerinnen und Bürger, initiativ oder korrigierend, bezogen auf ein Gesetz der Legislative, oder ist das Referendum obligatorisch in der Verfassung zu bestimmten Sachfragen vorgesehen?

Entlang dieser Unterscheidungen gliedert Rehmet die direktdemokratischen Verfahren in den untersuchten Ländern. Die Unterscheidungen führen den Politikwissenschaftler zu diversen Summierungen, deren Erkenntniskraft zweifelhaft bleibt. So wurden in den 43 untersuchten Ländern bis Ende 2018 insgesamt 1050 verbindliche und 50 unverbindliche Volksabstimmungen durchgeführt. In 16 Staaten gab es bürgerinitiierte Referenden, 33 Staaten verfügen über das Mittel staatlich initiierter Verfahren. Tatsächliche Volksgesetzgebung gibt es hingegen nur in der Schweiz, in San Marino und in Liechtenstein.

Wenig überraschend ist auch, dass die Schweiz das Land mit den meisten Volksabstimmungen ist. Immerhin lebt die Eidgenossenschaft die intensiv praktizierte direkte Demokratie bereits seit 1848. Durchschnittlich 37,5 Volksabstimmungen pro Jahr über einen Zeitraum von zehn Jahren betrachtet werden dort durchgeführt. Mit Abstand ist danach Italien das Land mit den meisten Volksabstimmungen, nämlich 9,9 pro Jahr, gefolgt von Slowenien mit 8,6.

Interessanterweise spielt Deutschland in den Buch keine Rolle. Das liegt daran, dass es auf Bundesebene eigentlich keine direktdemokratischen Elemente gibt, sieht man man von der Neugliederung des Staatsgebiets ab, die durch einen Volksentscheid bestätigt werden müsste. Ob es sinnvoll ist, die Bundesländer bei der Betrachtung der föderalen Bundesrepublik einfach auszublenden, darf durchaus bezweifelt werden.

Nachschlagewerk für die Faktenbasis

Der von Frank Rehmet präsentierte Band ist eher ein Nachschlagewerk und eignet sich für die Unterfütterung der Diskusion direkter Demokratie mit Fakten aller Art. Der analytische Teil am Ende des Buches nennt einige Knackpunkte wie das Problem der Quoren für erfolgreiche Volksabstimmungen oder die Notwendigkeit langer Fristen, um die Erfolgsaussichten von Volksbegehren zu vergrößern. Weitergehende politische Forderungen werden aber nicht erhoben.

Dies übernahm Bundesvorstandsmitglied Alexander Trennheuser, der auch Landesgeschäftsführer von Mehr Demokratie NRW ist, in seiner „Abmoderation“. Er stellte das von seinem Verband bevorzugte Modell einer dreistufigen Volksgesetzgebung auch auf Bundesebene vor. Was in den Kommunen bereits Usus sei, solle auch  gesamtstaatlich möglich werden, also ein Dreiklang aus Volksinitiativen, Volksbegehren und Volksentscheiden.

Wem der Sinn weniger nach „trockenen“ Überblicksinformationen zu direkter Demokratie ist, sondern eher nach eingängiger, inhaltlich-konzeptioneller Lektüre, ist sicher bei dem Band „Demokratie. Die Unvollendete“ der Politikwissenschaftlerin und Journalistin Ute Scheub besser aufgehoben. Dieses Buch, das in der Diskussion nach der Buchvorstellung eine Rolle spielte, fügt aktuelle Erkenntnisse zu direkter Demokratie in einen spannenden konzeptionellen Rahmen einer „Musical Democracy“ ein. Darum soll es demnächst in einem weiteren Beitrag gehen.

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